nächste Filmanalyse von Sabine Sonntag und Christa Marahrens-Schuerg:
Montag, 6. Januar 2020, 19:30 Uhr
im Kommunalen Kino Hannover
Der Trafikant
(2018)
Regie: Nikolaus Leythner nach dem Roman von Robert Seethaler
Der Trafikant
Eine „Trafik“ nennt man in Österreich jenen Kiosk mit einem großen „T“ als Logo, wo Zeitungen, Tabakwaren und, zumindest früher, auch Billetts für die Tram verkauft werden. Solch eine Trafik wird in Robert Seethalers Roman (2012) zum Mikrokosmos für das Wien von 1938. Hier, im Zentrum der Ohn-Macht sozusagen, erlebt der 17-jährige Franz Huchel aus dem Salzkammergut, was eine multikulturelle Weltstadt ist, und wie diese innerhalb weniger Wochen zerstört wird. Von seinem Hocker in der Trafik aus sieht er, wie Juden, darunter sein alter Chef Otto, verhöhnt und schließlich „abgeholt“ werden. Der Abholung zuvorkommt sein ungewöhnlicher Freund Professor Sigmund Freud. Der gehört zu den Stammkunden der Trafik und nimmt sich der Nöte des jungen, frisch verliebten Franz an. So wird Freud zum beratenden Begleiter der Initiation des jungen Franz, der sich in ein böhmisches Mädchen mit Zahnlücke verliebt hat. Aber jenes Mädchen wendet sich schnell von Franz ab und lässt sich mit einem Zuhälter und dann mit einem SS-Offizier ein. Freud gibt dem Franz Ratschläge, wird ein bisschen zum Vaterersatz und erhält dafür die besten Zigarren der Welt. Kurz bevor Freud nach England emigriert, darf Franz die berühmte Couch in der Berggasse sehen.
Franz wird nicht nur zum Mann in diesen Wochen, sondern er reift in seiner politischen und ethischen Haltung. Gespiegelt wird sein Entwicklungsprozess an dem der Mutter in der Seen- und Bergwelt, der er jede Woche eine Postkarte schreibt, und die ihn wiederum nabelschnurgleich mit Briefen versorgt. Bei alldem folgt der österreichisch-deutsche Spielfilm von Nikolaus Leytner aus dem Jahre 2018 sehr genau der Romanvorlage von Robert Seethaler. Lediglich die Mutterszenen und zwischengeschaltete Träume von Franz sind frei interpretierende Filmzutat. Das Geschehen spielt sich in einer bewusst künstlich gehaltenen Kulissenwelt ab, die gar nicht erst behauptet, das reale Wien von 1938 zu sein, sondern die in einer Art Bühnendistanz die Ereignisse für den Filmbesucher filtert. Das größte Glück des Films ist zweifellos Bruno Ganz in einer seiner letzten Rollen, dessen Freud aus einer großen Anzahl von über 80 filmischen Freud-Verkörperungen heraussticht und vielleicht die anrührendste überhaupt ist.
Im Anschluss an den Film Referat und Diskussion mit
Dipl. Psych. Christa Marahrens-Schürg und Dr. phil. Sabine Sonntag
Sabine Sonntag | Copyright 2020