Der Seherblick für das Nie-Erlebte: Wagner und... Homer
Mindestens 1155 musikalische Werke, die vom trojanischen Krieg erzählen, sind heute nachzuweisen. Von Wagner ist keines darunter. Von Verdi auch nicht. Bei dem Italiener ist das nicht verwunderlich, denn keine seiner 26 Oper ist mythologischen Inhalts. Bei Wagner schon, nur Rienzi ist NICHT mythologischen Inhalts. Wagner hat kaum einen anderen Dichter so genau gelesen wie Homer, vierzehnjährig dann auch schon im griechischen Original. Immer und immer wieder nimmt er auf Homer Bezug, ruft ihn zum Zeugen für das eigene Denken und Schaffen. Warum also kein Musikdrama über Paris und Helena, keines über König Priamos? Bis auf den kleinen Achill-Entwurf aus den Revolutionsjahren keine Versuche, den Krieg aller Kriege zu musikalisieren! Warum? So wie Verdis nicht komponierter Lear die Zeitgenossen herausgefordert hat, so scheint es, dass auch Wagners Epigonen den Freiraum dankbar ergriffen, ja sich geradezu auf die Ilias und Odyssee gestürzt haben, allen voran ein Mann namens Bungert, der Wagners Tetralogie gar durch eine Heptalogie nach Homer zu übertrumpfen suchte – vier Teile zur Odyssee und nach des Meisters Vorbild vorgeschaltet nochmals drei Teile zur Ilias. Sabine Sonntag berichtet bei ihrem Vortrag über Wagners Homer-Verehrung, sein Achill-Fragment, seine Bearbeitung der Iphigenie von Gluck und vor allem über viele heute vergessene Troja-Kompositionen, die zwar nicht von Wagner sind, aber ohne den übermächtigen Einfluss Wagners undenkbar erscheinen und die für uns heute sozusagen Wagners virtuelle Troja-Opern darstellen.
Sabine Sonntag | Copyright 2020